Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit dem Völkerrecht verbessern; Zusatzbericht des Bundesrates stellt Massnahmen zur Diskussion
Bern, 31.03.2011 - Eine materielle Vorprüfung und strengere Gültigkeitsvoraussetzungen für Volksinitiativen können dazu beitragen, mögliche Widersprüche zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht zu vermeiden. Zu diesem Schluss gelangt der Zusatzbericht über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, den der Bundesrat am Mittwoch verabschiedet hat. Der Zusatzbericht will eine vertiefte politische Diskussion ermöglichen und Entscheidgrundlagen liefern.
Nach geltendem Verfassungsrecht erklärt das Parlament eine Volksinitiative für ungültig, wenn sie den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts widerspricht, z. B. dem Verbot von Völkermord, Folter oder Sklaverei. Volksinitiativen, die übriges Völkerrecht verletzen, werden hingegen vom Parlament für gültig erklärt und Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet. Gelingt es nicht, solche Initiativen im Falle einer Annahme völkerrechtskonform umzusetzen, gerät die Schweiz in die schwierige Situation: Sie muss entweder geltendes Verfassungsrecht nicht anwenden oder völkerrechtliche Verpflichtungen verletzen.
Materielle Vorprüfung - ein Beitrag zur Stärkung der Volksrechte
Der Zusatzbericht zeigt auf, dass diese Situation durch eine erweiterte, materielle Vorprüfung von Volksinitiativen entschärft werden könnte. Heute prüft die Bundeskanzlei von Gesetzes wegen im Wesentlichen formelle Aspekte. Dieses Verfahren könnte durch eine materielle Vorprüfung erweitert werden, die das Bundesamt für Justiz im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) und die Direktion für Völkerrecht im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheit (EDA) gemeinsam vornehmen würden. Gemäss dem Modell, das der Zusatzbericht skizziert, würden die Initiantinnen und Initianten vor Beginn der Unterschriftensammlung eine nicht bindende behördliche Stellungnahme erhalten, ob der Initiativtext mit dem Völkerrecht vereinbar ist oder nicht. Es steht Ihnen dann frei, den Initiativtext allenfalls anzupassen, um die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht zu gewährleisten.
Auf dem Unterschriftenbogen würde dann das positive oder negative Ergebnis der Vorprüfung kurz vermerkt und auf die behördliche Stellungnahme im Bundesblatt verwiesen. Diese Information ist zu verstehen als eine Entscheidungshilfe für die Stimmberechtigten, welche die Unterzeichnung der Volksinitiative erwägen. Dieses erweiterte Vorprüfungsverfahren wäre also eine Dienstleistung der Behörden, mit dem Ziel, die Volksrechte zu stärken. Die Umsetzung dieser Lösung erfordert eine Anpassung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte.
Grundrechtliche Kerngehalte nicht verletzen
Trotz Erweiterung des Vorprüfungsverfahrens könnten Volksinitiativen zustande kommen, die mit dem Völkerrecht nicht vereinbar sind. Der Zusatzbericht schlägt als zweite Massnahme daher eine weitere Gültigkeitsvoraussetzung für Volksinitiativen vor: Das Parlament soll auch Volksinitiativen für ungültig erklären, die den Kerngehalt der verfassungsrechtlichen Grundrechte verletzen. Davon betroffen wäre beispielsweise eine Volksinitiative für die Wiedereinführung der Todesstrafe, weil sie das Recht auf Leben verletzen würde. Hingegen wäre die 2009 angenommene Minarett-Initiative in Anwendung dieses Kriteriums nicht für ungültig erklärt worden. Die Schaffung weiterer Gültigkeitsvoraussetzungen erfordert eine Verfassungsrevision.
Diese Ausdehnung der Ungültigkeitsgründe trägt zur besseren Vereinbarkeit zwischen Volksinitiativen und völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz bei, kann allerdings nicht alle Verletzungen von Völkerrecht vermeiden. Der Zusatzbericht erwähnt neben den Kerngehalten der Grundrechte weitere mögliche Schranken für Volksinitiativen, darunter das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot.
Auf starre Regel verzichten
Schliesslich untersucht der Zusatzbericht, ob gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts (sogenannte Schubert-Praxis) eine Konfliktregel in der Bundesverfassung verankert werden könnte. Eine solche Regel könnte den Vorrang bei Widersprüchen zwischen Landesrecht und Völkerrecht festlegen. Sie könnte vorsehen, dass das Landesrecht angewendet wird, falls der Gesetzgeber bewusst vom Völkerrecht abgewichen ist und die Bestimmung des Völkerrechts nicht dem Schutz der Menschenrechte dient. Weil die Nachteile einer solchen starren Regelung überwiegen, empfiehlt der Zusatzbericht, auf diese Massnahme zu verzichten.
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Letzte Änderung 26.06.2024