Referat Regierungsrat Dr. Claudius Graf-Schelling, Chef des Departements für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau

Es gilt das gesprochene Wort

Zusammenfassung

Die Kantone haben als erste auf die tragischen Mordfälle von Anfang der Neunzigerjahre reagiert. Im Ostschweizer Strafvollzugskonkordat wurde schon 1993 ein Kriterienkatalog entwickelt, um die Gemeingefährlichkeit eines Täters besser erkennen zu können. Zudem wurde eine Fachkommission eingesetzt, welche die Entscheidinstanzen (z.B. bei der Prüfung einer bedingten Entlassung) zu beraten hat. Diese Einrichtung hat sich restlos bewährt.

Der von der Initiative vorgesehene Ablauf, wonach vor der Überprüfung der Verwahrung durch "neue wissenschaftliche Erkenntnisse" erwiesen sein muss, dass der Täter geheilt werden kann, ist für die Praxis untauglich. Um verbindlich feststellen zu können, ob eine bestimmte Person gefährlich ist, muss der konkrete Einzelfall geprüft werden.

Seit die Fachkommissionen gezielt und mit grossem Aufwand Einzelfälle prüfen, hat man mit rückfälligen, gemeingefährlichen Straftätern keine Probleme ausserhalb des Vollzugs mehr gehabt. Die Initiative will ein Problem lösen, das seit über zehn Jahren keines mehr ist.

Referat

Sehr geehrte Damen und Herren

Wir äussern uns zu einem menschlich berührenden Thema. Wenn jemand in seiner körperlichen oder psychischen Integrität verletzt oder gar getötet wird, ist dies eine traurige Angelegenheit. Wir fühlen mit den Opfern und ihren Angehörigen mit. Ihre Betroffenheit ist auch unsere. Wir leisten den Opfern und ihren Angehörigen Hilfe. Grundlage der Hilfe ist neben dem mitmenschlichen Gefühl das Opferhilfegesetz, das eine Soforthilfe erlaubt, aber auch die Auszahlung von Entschädigungs- und Genugtuungsleistungen ermöglicht. Ebenso wichtig wie die Opferhilfe ist indes das Verhindern einer schweren Straftat durch eine aus dem Strafvollzug oder aus der Verwahrung entlassene Person oder durch eine im Hafturlaub befindliche Person.

Wenn ich mich nachfolgend sehr kritisch mit der Volksinitiative "Lebenslange Verwahrung..." auseinandersetze, so aus sachlichen Gründen. In der Zielsetzung kann ich mich mit den Initiantinnen und Initianten einverstanden erklären.

Ich spreche zu Ihnen als "Stimme der Kantone". Und zwar in zweifacher Hinsicht: Während zwölf Jahren präsidierte ich ein erstinstanzliches Strafgericht, das für die Beurteilung aller grösseren Delikte zuständig war. Seit bald vier Jahren bin ich im Kanton Thurgau als Regierungsrat zuständig für die Bereiche Justiz und Sicherheit. Ich bin deshalb in diesem Zusammenhang auch die "Stimme der Praxis". Das ist von Bedeutung, weil all das, was der Bund auf dem Gebiet des Strafrechts gesetzgeberisch entscheidet, von den Kantonen zu vollziehen und zu bezahlen ist.

Dass der Umgang mit gefährlichen Straftätern ein Problem ist, liegt auf der Hand. Was es heisst, die Gesellschaft vor diesen Menschen zu schützen, ohne ihnen zugleich eine menschenwürdige Existenz abzuerkennen, wissen wir in den Kantonen aus oft bedrängender Erfahrung sehr wohl. Und wenn es darum geht zu entscheiden, ob ein solcher Mensch - der vielleicht vor einem oder zwei Jahrzehnten schwerste Verbrechen verübt hat - aus dem Vollzug entlassen werden kann, sind wiederum wir Kantone zu allererst gefordert.

Es ist daher kein Zufall, dass die Kantone als erste auf die tragischen Mordfälle von Anfang der Neunzigerjahre reagiert haben. Das war auch nötig, denn es gab damals Lücken im System. Im Ostschweizer Strafvollzugskonkordat (auch der Kanton Thurgau gehört dazu) wurde noch im Jahr 1993 ein Kriterienkatalog entwickelt, um die Gemeingefährlichkeit eines Täters besser erkennen zu können. Und es wurde eine Fachkommission eingesetzt, welche die Entscheidinstanzen beispielsweise bei der Prüfung einer bedingten Entlassung zu beraten hat. Dieser Fachkommission gehören Leute aus den drei Bereichen Strafverfolgung/Gerichte, Psychiatrie und Strafvollzug/Bewährungshilfe an. Diese Einrichtung hat sich in den vergangenen Jahren restlos bewährt. Mit der Revision des Strafgesetzbuches wird die verbesserte Praxis der Kantone bundesrechtlich legitimiert. Man darf deshalb sagen, dass der Staat die Lehren gezogen hat, und zwar äusserst erfolgreich.

Die Initiative nimmt wie gesagt ein berechtigtes Anliegen auf. Sie schiesst aber einerseits über das Ziel hinaus, anderseits weist sie Lücken auf.

So beschränkt sie sich auf ein Verwahrungsmodell für psychisch gestörte Straftäter. Gemeingefährlich können aber auch Personen ohne psychische Störung sein. Es erstaunt deshalb nicht, dass ausgerechnet die drei im Volk geläufigsten Sexual- und Gewaltstraftäter von der Verwahrungsinitiative nicht erfasst worden wären.

Über das Ziel hinaus schiesst die Initiative, weil sie verkennt, dass viele Täter Grenzfälle darstellen und sich die Frage der Therapierbarkeit oder eben der fehlenden Therapierbarkeit nicht derart eindeutig und für alle Ewigkeit, sondern erst nach längerem Freiheitsentzug und nach vergeblichen Therapieversuchen klar beantworten lässt. Im Falle der angenommenen Nichttherapierbarkeit gibt es praktisch nie mehr ein Zurück. Es handelt sich um einen irreversiblen Entscheid. Und das ist ganz bewusst so gewollt. Bekanntlich sieht die Initiative die Überprüfung der Verwahrung nur dann vor, wenn durch so genannt "neue wissenschaftliche Erkenntnisse" erwiesen wird, dass der Täter geheilt werden kann. Das heisst doch nichts Anderes, als dass zuerst auf einer allgemeinen wissenschaftlichen Ebene das Vorliegen neuer Erkenntnisse erstellt sein muss, und man erst dann daran gehen kann, den Einzelfall zu prüfen.

Dieser Ablauf ist praxisfremd, ja sogar geradezu für die Praxis untauglich. Denn worauf kommt es in diesem Zusammenhang stärker an als auf den "Einzelfall", also auf den konkreten Menschen, von dem möglicherweise Gefahr für Leib und Leben anderer Menschen droht? Darum geht es in erster Linie, und es ist für die Sicherheit nur wenig hilfreich, wenn in irgendeiner Fachzeitschrift - oder irgendwo auf dem Internet - neue wissenschaftliche Erkenntnisse veröffentlicht werden, die ja in der Regel noch nicht über längere Zeit auf ihre Wirksamkeit geprüft werden konnten.

Um verbindlich feststellen zu können, ob von einer bestimmten Person Gefahr ausgeht, muss der konkrete Einzelfall geprüft werden. Das aber wollen die Initianten gerade nicht. Denn die Einzelfallprüfung könnte ja beispielsweise bei einem 85-jährigen Täter zur Entlassung aus der Verwahrung führen. Nein, er soll bis ans Lebensende in Verwahrung bleiben, ohne Hafturlaub. Wenn die Initiantinnen dazu bemerken, es sei fraglich, ob einem 85-jährigen Mann nach Jahrzehnten die Entlassung in eine veränderte Welt zuzumuten sei (St. Galler Tagblatt, 10.1.2004, S. 9), so ist dies kein stichhaltiges, eher ein seltsames Argument.

Ein weiterer Schwachpunkt: Über die Frage der Nichttherapierbarkeit - übrigens auch über die Frage der "extremen Gefährlichkeit" - entscheidet nicht das Gericht, sondern die gutachtende Person. Der Richter als Diener des Rechts wird damit zum Sklaven des Gutachters und damit zur reinen Urkundsperson degradiert: Er hat gefälligst das abzusegnen und zu unterschreiben, was ihm der Gutachter ins Urteil diktiert. Diese Aufgabenteilung wäre in unserm Rechtsstaat so ungewohnt wie neu. - In der Ausbildung der Richterinnen und Richter und im Rahmen der Justizkritik wird immer wieder bemängelt, die Gerichte seien zu gutachtergläubig. Die Gutachten würden zu wenig kritisch gewürdigt. Wenn wir nun hingehen und den Gerichten die Würdigungsmöglichkeit wegnehmen, fördern wir die fachlich ungenügende juristische Arbeit noch per Gesetz.

Erlauben Sie mir sodann noch eine sehr grundsätzliche Bemerkung: Heute wird überall Flexibilität verlangt - in der Privatwirtschaft, auch beim Staat. Wir sollen rasch reagieren können, nichts oder nur weniges soll zementiert werden. Die Initiative verfolgt gerade ein gegenteiliges Ziel: Starre, rigide, nur schwer verrückbare Strukturen werden geschaffen. Wollen wir dies um jeden Preis, auch jenen der Menschlichkeit?

Stichwort Preis: Jeder Departementsvorsteher hat bei der Verabschiedung seiner Geschäfte folgende Fragen zu beantworten: Welches sind die finanziellen Auswirkungen der Vorlage und wie verhält es sich mit der finanziellen Tragbarkeit? Unter diesem Gesichtspunkt ist auch das vorliegende Volksbegehren zu prüfen. Ist es so gesehen sinnvoll, einen offensichtlich nicht mehr gefährlichen Täter bis an sein Lebensende in staatlichem Gewahrsam zu behalten? Wenn man einen nicht mehr gefährlichen Täter während 20 Jahren zurückbehält, bei einem Aufwand von 500 bis 1'500 Franken pro Tag: Darf man dann ausrechnen, wie viel Geld hier ausgegeben wird ohne ein Mehr an Sicherheit zu bekommen? Darf man dann die Befürworter der Initiative daran erinnern, dass so die Steuerbelastung steigt und mit ihr die Staatsquote? Oder schicken sich solche Gedanken nicht? Gelten hier Denkverbote?

Das von der Initiative verfolgte Ziel von "mehr Sicherheit" kann mit dem von den Kantonen bereitgestellten Instrumentarium und den neuen Vorschriften des Strafgesetzbuches gerade so gut erreicht werden. Wichtig sind dabei die Einzelfallprüfungen. Hier die neuesten Zahlen aus dem Ostschweizer Strafvollzugskonkordat: Im vergangenen Jahr wurden der Fachkommission 51 Fälle vorgelegt und 44 Straftäter sowie zwei Straftäterinnen auf ihre Gemeingefährlichkeit hin beurteilt. 23 Fälle waren so genannte Erstvorlagen. Die Fachkommission tagte durchschnittlich jede dritte Woche. Vielleicht noch wichtiger als diese Zahlen ist die Feststellung, dass es sich bei diesen Prüfungen keineswegs um ein "Massengeschäft" handelt, sondern um gezielt und mit grossem Aufwand betriebene Beurteilungen von Einzelfällen, d.h. einzelnen Tätern. Seit die genannten Fachkommissionen solche Einzelfallprüfungen durchführen, hat man mit rückfälligen, gemeingefährlichen Straftätern keine Probleme ausserhalb des Vollzugs mehr gehabt. Für die Initiative heisst dies: Sie will ein Problem lösen, das seit über zehn Jahren keines mehr ist.

Wollen wir wirklich auf die erfolgreichen Massnahmen der Kantone und die rechtskräftig verabschiedete Revision des Strafgesetzbuches verzichten zu Gunsten der besonders im Vollzug fragwürdigen Lösung der Initianten? Wollen wir eine Verfassungsergänzung, die in einigen Punkten den Geist des 19. Jahrhunderts atmet? Nein, meinen übrigens auch die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Einstimmig sind sie gegen die Initiative - bei aller Betroffenheit.

Letzte Änderung 19.01.2004

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