Völkerrecht

Vom klassischen zum modernen Völkerrecht

Während das klassische Völkerrecht bis zum Ende des Ersten Weltkrieges vorwiegend die Beziehungen zwischen den Staaten regelte, erstreckt sich das moderne Völkerrecht auch auf die internationalen Organisationen (insbesondere die UNO) und stellt vermehrt den Schutz und das Wohl der Menschen in den Vordergrund (Menschenrechte, Schutz der Menschen in bewaffneten Konflikten). Viele Probleme lassen sich heute kaum noch sinnvoll auf einzelstaatlicher Ebene lösen. Deshalb gibt es zunehmend völkerrechtliche Normen auch in Bereichen, die früher fast ausschliesslich dem Landesrecht vorbehalten waren (z. B. Umweltschutz, Verbrechensbekämpfung, Telekommunikation, Transportwesen).

Quellen des Völkerrechts

Die wichtigste Quelle des Völkerrechts sind die völkerrechtlichen Verträge. Ein völkerrechtlicher Vertrag ist eine Vereinbarung zwischen Staaten oder zwischen Staaten und internationalen Organisationen.

Als weitere Quelle des Völkerrechts gilt das Völkergewohnheitsrecht. Auf Völkergewohnheitsrecht kann geschlossen werden, wenn die Staaten bestimmte Handlungsweisen regelmässig wiederholen, mit der Überzeugung einer Rechtspflicht nachzukommen. Gewohnheitsrechtliche Regeln gibt es beispielsweise im Bereich der Immunitäten von Staatsoberhäuptern.

Schliesslich gelten auch die allgemeinen, von den Staaten anerkannten Rechtsgrundsätze als Völkerrechtsquelle. Darunter sind Rechtsgrundsätze zu verstehen, die in den grossen Rechtssystemen der Welt bekannt sind und dadurch universelle Geltung haben. Dazu zählen etwa das Gebot von Treu und Glauben oder das Verbot des Rechtsmissbrauchs.

Entstehung und demokratische Legitimation des Völkerrechts

Völkerrecht entsteht anders als staatliches Recht. Gesetze werden durch gewählte Volksvertreter verabschiedet. Völkerrechtliche Verträge werden von Regierungsvertretern ausgehandelt. Meist wird verhandelt, bis ein für alle beteiligten Staaten annehmbarer Kompromiss erzielt ist. In der Folge kann jeder Staat souverän und frei entscheiden, ob er einem ausgehandelten Vertrag zustimmen will oder nicht.

In der Schweiz genehmigt im Regelfall die Bundesversammlung die völkerrechtlichen Verträge. In gewissen Fällen hat die Bundesversammlung den Bundesrat zum Abschluss völkerrechtlicher ermächtigt. Selbstständig abschliessen kann der Bundesrat auch völkerrechtliche Verträge von beschränkter Tragweite. Dazu gehören namentlich Verträge, die bloss administrativ-technische Fragen regeln, für die Schweiz keine neuen Pflichten begründen oder lediglich dem Vollzug von Verträgen dienen, die von der Bundesversammlung bereits genehmigt worden sind.

Stimmberechtigte können das fakultative Staatsvertragsreferendum ergreifen gegen völkerrechtliche Verträge, die unbefristet und unkündbar sind, den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder vergleichbare Wirkungen wie Bundesgesetze entfalten. Völkerrechtliche Verträge, die den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften vorsehen (z. B. Beitritt zur EU), werden Volk und Ständen obligatorisch zur Abstimmung unterbreitet (obligatorisches Staatsvertragsreferendum). Ein Staatsvertrag bedarf schliesslich auch dann der Zustimmung von Volk und Ständen, wenn ihm eine Bedeutung beigemessen werden muss, der ihn auf die Stufe der Bundesverfassung hebt.

Mit zunehmender Bedeutung der internationalen Bindungen ist die direktdemokratische Beteiligung im Staatsvertragsabschlussverfahren schrittweise gestärkt worden. Heute besteht ein weitgehender Parallelismus zwischen dem Gesetzes- und dem Staatsvertragsreferendum. Das heisst, völkerrechtliche Verträge, die eine Änderung von Bundesgesetzen erfordern oder einer solchen gleichkommen, unterstehen dem fakultativen Staatsvertragsreferendum. Der Abschluss und die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge ist also ebenso Ausdruck nationaler Souveränität, wie der Erlass von Gesetzesrecht.

Vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge durch den Bundesrat

Der Bundesrat kann in Wahrnehmung seiner aussenpolitischen Führungsverantwortung einen völkerrechtlichen Vertrag vor der Genehmigung durch die Bundesversammlung vorläufig anwenden. Dazu ist aber der Bundesrat nur dann befugt, wenn gesetzlich umschriebene Voraussetzungen erfüllt sind: wenn das ordentliche parlamentarische Genehmigungsverfahren zu viel Zeit erfordert und wichtige Interessen der Schweiz auf dem Spiel stehen, die sofortiges Handeln nötig machen. Die vorläufige Anwendung endet von Gesetzes wegen, wenn der Bundesrat nicht innert sechs Monaten ab Beginn der vorläufigen Anwendung der Bundesversammlung den betreffenden völkerrechtlichen Vertrag zur Genehmigung unterbreitet.

Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht

Das Völkerrecht selber enthält keine allgemeinen Vorgaben, wie es innerstaatlich umgesetzt wird. Doch sind es in allen Staaten drei Elemente, die das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht bestimmen.

Das erste Element ist die Geltung des Völkerrechts. Die Schweiz folgt dem sogenannten monistischen System: Ein von der Bundesversammlung genehmigter oder vom Bundesrat abgeschlossener völkerrechtlicher Vertrag gilt unmittelbar auch in der Schweizer Rechtsordnung. Anders als in Staaten mit einem dualistischen System ist es in der Schweiz nicht erforderlich, Völkerrecht mittels eines Transformations- oder Zustimmungsgesetzes in die Schweizer Rechtsordnung zu überführen.

Das zweite Element ist die Anwendbarkeit des Völkerrechts. In der Schweiz können sich Private direkt auf völkerrechtliche Normen berufen, wenn diese inhaltlich hinreichend bestimmt und klar sind, um als Grundlage für einen Behörden- oder Gerichtsentscheid im Einzelfall zu dienen. Sind völkerrechtliche Bestimmungen nicht direkt anwendbar, so ist der Gesetzgeber gefordert, diese im Landesrecht zu konkretisieren.

Das dritte Element fragt danach, welchen Rang das Völkerrecht in der Normenhierarchie des Landesrechts einnimmt. Die Verfassung verpflichtet zur Beachtung des Völkerrechts und enthält gewisse Aussagen zum Rang des Völkerrechts und zum Umgang mit Normenkonflikten. Daran anknüpfend geht das Bundesgericht vom grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts aus, anerkennt aber auch Ausnahmen zugunsten des Landesrechts. Die Praxis des Bundesgerichts lautet vereinfacht wie folgt: Völkerrecht geht dem Bundesgesetz prinzipiell vor (Grundsatz). Hat aber die Bundesversammlung einen Verstoss gegen das Völkerrecht bewusst in Kauf genommen, so geht das entsprechende (spätere) Bundesgesetz vor (Ausnahme). Allerdings gehen internationale Menschenrechtsgarantien, wie sie beispielsweise die EMRK verankert, widersprechenden Bundesgesetzen immer vor (Gegenausnahme).

Auch Volksinitiativen auf Teilrevision der Verfassung können mit dem Völkerrecht kollidieren. Verstösst eine Volksinitiative gegen die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts, so erklärt sie die Bundesversammlung für ungültig. Verstösst eine Volksinitiative gegen nicht zwingende Bestimmungen des Völkerrechts, so ist sie Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten. Wird die Volksinitiative angenommen, so zielt die Praxis der Bundesversammlung darauf ab, den neuen Verfassungstext völkerrechtskonform umzusetzen und dabei den Willen des Verfassungsgebers möglichst weitgehend zu berücksichtigen.

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Letzte Änderung 12.08.2024

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