Die Selbstbestimmungsinitiative will, dass die Verfassung gegenüber dem Völkerrecht immer Vorrang hat. Was ändert sich, wenn sie an der Urne eine Mehrheit findet?
Die Schweiz würde internationale Abkommen leichtfertig aufs Spiel setzen. Dazu gehören Verträge wie die Bilateralen mit der EU, Freihandelsabkommen oder die Menschenrechtskonvention. Die Initiative verlangt, dass die Schweiz bei jedem Widerspruch zwischen der Verfassung und einem internationalen Vertrag das betreffende Abkommen neu verhandelt und nötigenfalls kündigt. Das ist ein hoch riskantes Experiment, das wir uns ersparen sollten. Denn es gefährdet unsere Stabilität und Verlässlichkeit.
Hat die Schweiz wirklich unzählige Verträge unterzeichnet, die der Verfassung widersprechen?
Die Initiative gilt ja vor allem für die Zukunft. Wir können deshalb heute noch gar nicht wissen, wie viele Konfliktfälle es geben wird. Zudem hat die Vorlage eine Rückwirkungsklausel. Das könnte dazu führen, dass nach einer Annahme sämtliche Verträge nach möglichen Widersprüchen zur Verfassung durchforstet würden. Würde sich beispielsweise herausstellen, dass eine Bestimmung der Verfassung dem Recht der Welthandelsorganisation WTO widerspricht, müsste die Schweiz den Vertrag mit allen 163 Mitgliedern der WTO neu verhandeln und wenn nötig kündigen.
Sie fürchten also, dass schlafende Hunde geweckt werden?
Das kann man so sagen. Es würde ein endloses innenpolitisches Hickhack darüber geben, in welchen Fällen unsere Verfassung einem Vertrag widerspricht oder nicht. Diese Diskussion hat ja schon angefangen. Von einzelnen Befürwortern hört man zum Beispiel, dass es bereits heute Widersprüche mit der Menschenrechtskonvention gebe.
Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse warnt, dass die Initiative bis zu 600 Verträge gefährde. Ist das nicht allzu alarmistisch?
Es ist verständlich, dass unsere Unternehmen aufzeigen, wie wichtig internationale Verträge für unser Land sind und dass sie sich deshalb gegen die Initiative wehren. Der Schweiz geht es ja gut. Das politische System ist stabil, die Arbeitslosenquote sehr tief. Mit der Selbstbestimmungsinitiative wäre die Schweiz keine verlässliche Vertragspartnerin mehr und würde ihren eigenen Erfolg gefährden.
Aber heute besteht doch die Gefahr, dass Volksinitiativen nicht umgesetzt werden, weil sich die Gerichte auf internationales Recht berufen.
Wenn es zwischen einem internationalen Vertrag und einer angenommenen Volksinitiative einen Konflikt gibt, dürfen wir etwas nicht vergessen: Auch internationale Verträge sind demokratisch legitimiert. Die Bevölkerung hat zum Beispiel die Bilateralen Verträge mit der EU mehrfach bestätigt. Gibt es einen solchen Konflikt, versucht das Parlament heute beides unter einen Hut zu bringen. Mit der Initiative ginge das nicht mehr. Pragmatische Lösungen und Kompromisse würden unmöglich. Stattdessen müsste die Schweiz Verträge brechen, neu verhandeln und kündigen. In einer Zeit, in der Staaten zunehmend ihre Interessen mit Macht durchsetzen wollen, sollte die Schweiz besser auf vertraglich abgesicherte Beziehungen zu anderen Staaten setzen, statt sich vom internationalen Recht abzuwenden.
Gegner warnen, die Initiative gefährde die Menschenrechte. Sollte die Verfassung nicht zum Schutz der Menschenrechte ausreichen?
Natürlich sind die Menschenrechte in der Bundesverfassung verankert. Aber jedes Land hat blinde Flecken. Die Anliegen der Asbestopfer zum Beispiel wurden in der Schweiz lange nicht ernst genommen. Erst ein Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte führte zur Entschädigung für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Genau für solche Fälle brauchen wir den Gerichtshof in Strassburg. Er macht uns auf etwas aufmerksam, das wir selbst übersehen haben. Ich finde es höchst bedenklich, dass die Initianten den internationalen Schutz der Menschenrechte schwächen wollen.
Ist es nur eine Frage der Zeit, bis das vom Volk gewollte Minarettverbot vom Menschenrechtsgerichtshof kassiert wird, weil er die Religionsfreiheit höher gewichtet?
Zu einem Minarettverbot hat sich der Gerichtshof noch nie geäussert. Er hat aber gezeigt, dass er nationales Recht durchaus hoch gewichtet. Er hat zum Beispiel das Burkaverbot in Frankreich gestützt und festgehalten, es verstosse nicht gegen die Menschenrechtskonvention.
Viele kirchliche Organisationen und Hilfswerke haben sich einem Nein-Komitee angeschlossen.
Dieses Engagement ist sehr wichtig. Denn die SVP-Initiative wirft auch die Frage auf, ob wir weiterhin bereit sind, die Rechte der Schwächsten zu schützen. Sie kommt juristisch und abstrakt daher, aber ihre Auswirkungen sind handfest. Es geht um das Zusammenleben mit anderen Staaten und in unserem Land. Das haben die kirchlichen und über 100 weiteren Organisationen erkannt, die sich für ein Nein zur Vorlage einsetzen.
Sind Sie enttäuscht, dass der Kirchenbund keine Parole gefasst hat?
Jede Organisation weiss am besten, zu welchen politischen Fragen sie in welcher Form Stellung bezieht, damit sie verstanden wird. Ich habe jedenfalls zur Kenntnis genommen, dass sich der Kirchenbund mit der Initiative auseinandergesetzt hat und zu einer sehr kritischen Einschätzung gekommen ist.
Die Kirchen kritisierten wiederholt die vom Bundesrat beabsichtigte Lockerung der Regeln für Waffenexporte. Stört es Sie, wenn sich die Kirche in die Politik einmischt?
Nein, im Gegenteil. In der Schweiz kann die Bevölkerung politisch mitbestimmen. Das ist eine riesige Chance und eine grosse Verantwortung. Um sie wahrnehmen zu können, brauchen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Orientierung. Hier spielt die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle – und damit auch
die Kirchen.
In welchen Momenten Ihrer politischen Arbeit waren Sie froh um dieses kirchliche Gegenüber?
Ich erinnere mich gut an die Asylgesetzrevision von 2016. Mit der Vorlage haben wir die Asylverfahren massiv beschleunigt. Wir haben aber auch den Rechtsschutz gestärkt: Asylsuchende erhalten einen Rechtsvertreter, der sie in einer schwierigen Situation unterstützt. Die Kirchen haben diese starke Geste erkannt und die Revision befürwortet. Das war hilfreich und wichtig. Auch die Bevölkerung stimmte der Revision dann ja mit grosser Mehrheit zu.
Letzte Änderung 26.10.2018