"Das ist eine absolute Verrohung der Sitten"

Interview, 25. November 2021: Blue News; Alex Rudolf, Anna Kappeler und Christian Thumshirn

Blue News: "Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagt im Gespräch, was wir als Gesellschaft tun können, um in Corona-Zeiten eine Spaltung zu verhindern. Ausserdem nimmt sie den Kampf gegen Femizide auf."

Frau Bundesrätin, jede zweite Woche wird in der Schweiz eine Frau getötet, geschieht ein Femizid. Warum bringt unser Justizsystem diese Zahl nicht herunter?
Gewalt gehört leider zu unserer Gesellschaft. Es ist nicht nur ein Problem der Justiz, sondern der ganzen Gesellschaft. Viele verschiedene Stellen sind an der Bekämpfung der häuslichen Gewalt beteiligt. Zudem wird häusliche Gewalt erst seit rund 20 Jahren systematisch bekämpft.

Erst am Montag waren Sie auf Staatsbesuch in Liechtenstein und tauschten sich zum Thema häusliche Gewalt aus. Sie setzen sich stark für das Thema ein. Warum?
Dass es Menschen gibt, die in den eigenen vier Wänden Angst vor Gewalt haben müssen, beelendet mich. Wir alle sind doch gerne zu Hause. Dort fühlen wir uns wohl und geborgen. Wir müssen verhindern, dass sich Menschen in diesem vermeintlich geschützten Rahmen vor Gewalt fürchten. Daher habe ich in meinem ersten Jahr als damalige St. Galler Regierungsrätin im Jahr 2000 eingebracht, dass der schlagende Partner weggewiesen werden kann. Davor blieb der Polizei nichts anderes übrig, als zu schlichten und zu beruhigen. Die Wegweisung wird heute in der ganzen Schweiz so angewendet.

Sie haben gemeinsam mit den Kantonen eine Roadmap erarbeitet. Damit wollen Sie die häusliche Gewalt eindämmen. Doch wird diese auch als «Roadmap der Versäumnisse» betitelt. Ist sie zu wenig griffig?
Das sehe ich nicht so. Die Roadmap ist ein Meilenstein. Denn es ist das erste Mal, dass sich Bund und Kantone gemeinsam verpflichtet haben, in ihrem Zuständigkeitsbereich alles zu machen, was nötig ist. Vorher sind es in der Regel alle für sich allein angegangen.

Aktuell sind die Kantone unterschiedlich weit, was die Massnahmen angeht. Ist eine Frau in Genf sicherer als im Appenzell Innerrhoden?
Das kann man so nicht sagen, das Strafrecht gilt in der ganzen Schweiz. In bevölkerungsreichen Kantonen wie Genf oder Zürich gibt es aber mehr Präventionsprojekte. In kleineren Kantonen wie Appenzell Innerrhoden funktioniert die soziale Kontrolle besser. Deshalb ist zum Beispiel das sogenannte Bedrohungsmanagement in einigen Kantonen weiter entwickelt als in anderen. Und zudem: Es gibt auch Femizide, die ohne Vorzeichen passieren.

In Corona-Zeiten hat die häusliche Gewalt stark zugenommen. Wie deuten Sie das?
Nicht nur die häusliche, sondern Gewalt generell ist ­– auch bei Jugendlichen ­– ein zunehmendes Problem. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Alkoholkonsum kann die Gewaltbereitschaft erhöhen. Hinzukommen gesellschaftliche Phänomene: Der gegenseitige Respekt nimmt ab, manche haben eine falsche Vorstellung von Männlichkeit. Man kann nie genug tun, um Gewalttaten zu verhindern. Ich bin aber zuversichtlich. Bund und Kantonen ist heute bewusst, dass wir diese Probleme nur zusammen in den Griff bekommen.

Und doch blieb die Zahl der Femizide in den letzten Jahren konstant. Warum lassen sie sich nicht eindämmen?
Das Thema ist komplex. Die Kantone, die für die öffentliche Sicherheit verantwortlich sind, haben sehr viel geleistet. Begleitende Massnahmen wie Opferschutz, Plätze in Frauenhäusern oder ein Bedrohungsmanagement sind ebenfalls zentral. Was auch wichtig ist: Gewalt an Frauen ist in unserer Gesellschaft sichtbarer geworden. Früher gab es noch nicht mal Statistiken dazu.

In Spanien werden Massnahmen wie Fussfesseln für Täter seit 2009 eingesetzt. Nächstes Jahr sollen auch in der Schweiz erste Tests dazu beginnen. Warum so spät?
Die Strafverfolgung und die öffentliche Sicherheit sind Sache der Kantone. Nur so viel: Im Januar werden Vertreter der Kantone und des Bundesamtes für Justiz nach Spanien reisen. Das Land hat bereits Erfahrungen mit elektronischer Überwachung gesammelt. Einige Kantone planen auch Pilotversuche mit Notfallknöpfen für die Opfer. Der Weg der Schweiz führt nun einmal über die Kantone. Hier hat die Roadmap wirklich einen Durchbruch gebracht. Zudem tritt per 1. Januar 2022 ein neues Gesetz in Kraft: Wenn ein Mann im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt verklagt wird, kann ihm das Gericht ein Rayon- oder Kontaktverbot zum Opfer auferlegen. Neu kann das Gericht in besonderen Fällen anordnen, dass ein solches Verbot auch elektronisch überwacht wird.

Ist es manchmal frustrierend, dass alles so langsam geht?
Das ist in der Schweiz so. Das ist Föderalismus. Es hat auch Vorteile: Dinge können im Kleinen ausprobiert – und Fehler allenfalls korrigiert – werden. Das motiviert dann andere, ebenfalls mitzumachen.

Sprechen wir über häusliche Gewalt. Rund die Hälfte der Betroffenen hat einen Migrationshintergrund. Warum sind diese Personen besonders stark betroffen oder üben besonders oft Gewalt aus?
Ja, Ausländerinnen und Ausländer sind von häuslicher Gewalt besonders betroffen, sei es als Opfer oder Täter. Dafür gibt es keine einfache Erklärung. Die Realität ist komplex. Die soziale Schicht kann eine Rolle spielen, finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit, Alkohol, Drogen. Es gibt auch kulturelle Hintergründe, etwa, dass Gewalt eher akzeptiert wird. Da spielen viele Gründe mit hinein, die sich zum Teil überlagern.

In der Öffentlichkeit wird dies oft tabuisiert. Können Sie diesen Rassismus-Vorwurf nachvollziehen?
Ich habe nicht den Eindruck, dass ich das tabuisiere. Die Zahlen sprechen zudem eine klare Sprache. In der öffentlichen Wahrnehmung spielt aber meist Ideologie mit hinein. Überspitzt formuliert: Die einen finden, Ausländer seien an allem schuld, die anderen, das sei überhaupt kein Ausländerproblem. Das bringt niemanden weiter.

Was bringt uns weiter?
Hinschauen. Die Realitäten benennen. Und dann Massnahmen zur Abhilfe treffen.

Ein Thema, das von der Justiz nur wenig beleuchtet wird, ist verbale Gewalt. Besonders Frauen in der Öffentlichkeit sind damit konfrontiert. Wurden auch Sie schon beleidigt oder bedroht?
Ja, Bedrohungen und Beleidigungen haben in letzter Zeit zugenommen. Gegen die Bundesrätinnen und Bundesräte und auch gegen mich persönlich. Die sozialen Medien spielen dabei eine Rolle. Das ist ein allgemeines Phänomen, das zugenommen hat. Doch auch dort gilt das Strafrecht. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Der Bund überprüft zurzeit, ob es neue gesetzliche Grundlagen braucht, um gegen Drohungen auf sozialen Medien besser vorgehen zu können.

Was raten Sie Frauen, die deswegen nicht in die Politik einsteigen wollen?
Bei den Frauen ist das Problem der verbalen Gewalt akzentuierter, weil sie auch noch als Frauen beleidigt werden. Gleichwohl ist es kein reines Frauenproblem, es betrifft alle Menschen, die exponiert sind. Das zeigt sich in der aktuellen Abstimmung: Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren in den Kantonen setzen sich nur zurückhaltend für das Covid-Gesetz ein, weil sie teils stark bedroht wurden. Das ist eine absolute Verrohung der Sitten. Die Schweiz lebt zwar davon, dass wir inhaltlich über Politik streiten. Aber Drohungen gegen eine Person oder deren Familie sind Straftaten. Das tolerieren wir nicht in unserer direkten Demokratie. Damit wird eine rote Linie überschritten. Wird jemand Opfer davon, kann ich nur raten: Machen Sie eine Anzeige.

Sie sagen, rote Linien werden überschritten. Was können wir als Gesellschaft tun, um gerade jetzt in Corona-Zeiten eine Spaltung zu verhindern?
Wir müssen uns als Gesellschaft gemeinsam wehren. Es braucht eine Mehrheit, die gegen solche Verrohung aufsteht und diese öffentlich zurückweist. Denn die, die drohen, sind zum Glück nur eine Minderheit. In der Schweiz sind wir seit jeher stolz darauf, dass wir die direktdemokratische Auseinandersetzung führen. Vielleicht einmal ruppig in der Sache, aber immer mit Respekt. Das Ausland beneidet uns um unsere Debattenkultur. Doch inzwischen ist es leider zusehends Mode geworden, Menschen mit einer anderen Meinung als Lügner zu bezeichnen oder zu bedrohen. Das ist keine gute Entwicklung. Es ist entscheidend, dass wir weiterhin mit Andersdenkenden zusammensitzen. Kämpfen um eine inhaltliche Lösung ja, andere beleidigen nein.

Zurück zur Gewalt: Nur eine von zehn Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, meldet dies der Polizei. Wie wollen Sie diese Zahl erhöhen?
Die überwiegende Zahl der Sexualdelikte geschieht im Bekanntenkreis. Die Schwelle für eine Anzeige ist deshalb oft höher. Dazu kommt Scham. Geht eine Person zur Polizei, muss sie die Tat schildern. Und nicht nur einmal. Die Aussage des Opfers ist Teil der Beweisführung gegen den Täter. Das kann sehr belastend sein. Ich habe mit Vergewaltigungsopfern gesprochen, welche die Tat erst Jahre später zur Anzeige gebracht haben. Sie kamen nicht damit zurecht, dass ihnen das passiert ist. Starke, junge Frauen haben mir gesagt: «Ich? Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas passiert.» Sie wollen mit niemandem darüber reden. Zu Ihrer Frage: Es ist trotz all dieser Hemmschwellen wichtig, schnell eine Anzeige zu machen.

Sie sassen mal als Zeugin einem Täter gegenüber. Mögen Sie davon erzählen?
Damals war ich Regierungsrätin und wurde bedroht. Ich wurde dann als Zeugin befragt. Gemäss Strafprozess hat der Täter mit seinem Anwalt das Recht, hinter einer Trennscheibe der Befragung beizuwohnen, und sein Anwalt kann Fragen stellen. Ich war damals Justizdirektorin, ich konnte das Prozedere einordnen. Ohne dieses Rechtswissen stelle ich mir die Situation für ein Opfer belastender vor. Aber ja, ich habe mich dann schon gefragt, ob ich im falschen Film gelandet bin. Aber der Täter hat auch Rechte im Verfahren. Den Ausgleich zwischen Opfer- und Täterschutz zu finden, ist schwierig, auch für den Gesetzgeber. Der Täter ging bis vor Bundesgericht und wurde für seine Drohung verurteilt.

Weitere Infos

Dossier

  • Bekämpfung der häuslichen und sexuellen Gewalt

    Die Bekämpfung der häuslichen und der sexuellen Gewalt ist ein Schwerpunkt des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD). Das EJPD arbeitet zusammen mit dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI), den Kantonen, weiteren Partnern und Organisationen sowie den Städten und Gemeinden an verschiedenen Massnahmen gegen häusliche und sexuelle Gewalt.

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Letzte Änderung 25.11.2021

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