Die Initiative will die Personenfreizügigkeit mit der EU beenden. Wird die Initiative angenommen, muss der Bundesrat das Freizügigkeitsabkommen (FZA) innerhalb von zwölf Monaten durch Verhandlungen mit der EU ausser Kraft setzen. Gelingt dies nicht, muss der Bundesrat das FZA innert weiteren 30 Tagen einseitig kündigen. In diesem Fall würde die "Guillotine-Klausel" zur Anwendung kommen: Auch die sechs anderen Abkommen der Bilateralen I würden automatisch wegfallen.
Die Initiative gefährdet den bilateralen Weg der Schweiz. Der Schweiz ist es gelungen, Verträge mit der EU abzuschliessen, die speziell auf sie zugeschnitten sind. Diese Verträge sichern die guten und ausgewogenen Beziehungen zu Europa, unserer wichtigsten Partnerin. Vor der Corona-Krise war die Schweizer Volkswirtschaft auch deshalb hervorragend aufgestellt und die Arbeitslosigkeit tief. Der Bundesrat will, dass es der Wirtschaft so rasch wie möglich wieder so gut geht, wie vor der Krise. Dazu braucht sie Stabilität und Perspektive. Ohne das Freizügigkeitsabkommen und die damit rechtlich verknüpften Verträge der Bilateralen I verlieren die Schweizer Unternehmen aber den direkten Zugang zu ihrem wichtigsten Markt. Eine Annahme der Initiative hätte also schwerwiegende Folgen für die Arbeitsplätze und den Wohlstand in der Schweiz.
Die Schweiz geht in Europa einen eigenständigen Weg: sie hat sich weder für eine EU-Mitgliedschaft noch für den Europäischen Wirtschaftraum (EWR) entschieden, sondern für bilaterale Verträge. Es ist der Schweiz gelungen, bilaterale Verträge mit der EU abzuschliessen, die speziell auf sie zugeschnitten sind.
Die Schweizer Stimmbevölkerung hat dem Vertragspaket "Bilaterale I" im Mai 2000 mit 67,2 Prozent zugestimmt und die Personenfreizügigkeit mit der EU später mehrmals bestätigt. Neben dem Personenfreizügigkeitsabkommen sichern fünf Abkommen der Bilateralen I der Schweiz und der EU den gegenseitigen Marktzugang: die Abkommen über technische Handelshemmnisse, das öffentliche Beschaffungswesen, die Landwirtschaft sowie den Land- und den Luftverkehr. Das Forschungsabkommen regelt die Teilnahme der Schweiz an den EU-Forschungsprogrammen.
Die Schweiz und die EU haben die sieben Abkommen der Bilateralen I als Paket ausgehandelt. Dabei haben sie vereinbart, dass das Freizügigkeitsabkommen durch eine "Guillotine-Klausel" mit den übrigen sechs Abkommen verknüpft ist: Wird es gekündigt, treten sechs Monate später auch die anderen Abkommen automatisch ausser Kraft.
Die Personenfreizügigkeit hat zum Ziel, die Mobilität der Arbeitskräfte zu erleichtern. Staatsangehörige der Schweiz und der EU-Mitgliedstaaten erhalten grundsätzlich das Recht, Arbeitsplatz und damit Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu wählen. Voraussetzung ist, dass sie über einen gültigen Arbeitsvertrag verfügen oder eine selbständige Erwerbstätigkeit nachweisen können. Nichterwerbstätige können auch von der Personenfreizügigkeit profitieren, sofern sie ausreichende finanzielle Mittel nachweisen können und umfassend krankenversichert sind.
EU-Staatsangehörige dürfen ihre Familienmitglieder im Rahmen der Personenfreizügigkeit grundsätzlich nachziehen. Der Familiennachzug ist an Bestimmungen geknüpft. Beispielsweise müssen die EU-Staatsangehörigen über eine angemessene Wohnung verfügen. Angemessen ist eine Wohnung dann, wenn sie den ortsüblichen Verhältnissen entspricht, die für Schweizer Bürgerinnen und Bürger gelten.
Die Zuwanderung aus der EU ist stark von den wirtschaftlichen Entwicklungen im In- und Ausland abhängig. Die Nettozuwanderung aus der EU hat sich seit 2013 halbiert: 2019 wanderten noch rund 32’000 Personen mehr ein als aus. Auch Schweizerinnen und Schweizer nutzen die Personenfreizügigkeit: Laut Angaben des Bundesamtes für Statistik lebte Ende 2018 rund eine halbe Million in der EU.
Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend, ist aber eine gefährliche Milchmädchenrechnung. Wenn die Schweiz die Grenzen gegenüber der EU schliesst, werden die Arbeitslosenzahlen nicht kleiner. Im Gegenteil: Der Bruch mit der EU fügt der Schweizer Wirtschaft nachhaltigen Schaden zu und gefährdet damit unmittelbar Arbeitsplätze in den hiesigen Unternehmen. Nach der Corona-Krise ist das das Letzte, was Schweizer Unternehmen jetzt brauchen.
Die Schweiz hat dem Freizügigkeitsabkommen von Beginn an flankierende Massnahmen zur Seite gestellt, damit die Löhne in der Schweiz nicht unter Druck geraten. Zusätzlich dazu wurde die Konkurrenzfähigkeit der inländischen Arbeitskräfte in den letzten Jahren gezielt gestärkt. So können sich Stellensuchende dank der Stellenmeldepflicht in Berufen mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit mit einem zeitlichen Vorsprung auf freie Stellen bewerben. Im Mai 2019 hat der Bundesrat in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern weitere Massnahmen beschlossen, mit denen die Chancen insbesondere von älteren Personen auf dem Arbeitsmarkt erhöht werden, zum Beispiel mit Job-Coaching oder gezielter Aus- und Weiterbildung. Zudem hat nach dem Bundesrat auch das Parlament beschlossen, ausgesteuerten Arbeitslosen über 60 Jahre, die lange gearbeitet und wenig Vermögen haben, bis zur Pensionierung eine existenzsichernde Überbrückungsleistung zu gewähren.
Dank den bilateralen Verträgen mit der EU haben die Schweizer Unternehmen, insbesondere die KMU, einen direkten Zugang zu ihrem wichtigsten Markt. Ohne diesen Zugang wären sie weniger konkurrenzfähig. Es würde weniger in den Standort Schweiz investiert und die Produktion vermehrt ins Ausland verlagert. Der Handel mit der EU wäre erschwert und die Preise in der Schweiz würden steigen. Auch im Luft- und Landverkehr profitiert die Schweiz von den Bilateralen I. So können Schweizer Fluggesellschaften eine grössere Auswahl an Flugverbindungen zu tieferen Preisen anbieten und im Landverkehr wird die Verlagerung auf die Schienen gefördert, was zu weniger Lastwagen auf der Strasse führt.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) hat 2015 die Folgen eines Wegfalls der Bilateralen I für die Schweiz untersuchen lassen: Gemäss diesem Bericht würde die wirtschaftliche Leistung der Schweiz (Bruttoinlandprodukt) in weniger als 20 Jahren 5–7 Prozent tiefer liegen als bei einem Fortbestehen der Bilateralen I. Kumuliert über diesen Zeitraum entspricht dies 460–630 Milliarden Franken.
Letzte Änderung 19.06.2020