Unten finden Sie die Fragen und Antworten zur Selbstbestimmungsinitiative, die das EJPD vor der Abstimmung vom 25. November 2018 online veröffentlicht hatte.
Grundsätzliches
Die Initiative will den Umgang mit internationalen Verträgen (Völkerrecht) ändern, wenn es zwischen diesen Verträgen und dem Verfassungsrecht einen "Widerspruch" gibt. Sie will in der Verfassung festschreiben, was zu tun ist, wenn zum Beispiel eine Volksinitiative angenommen wird, die in gewissen Punkten mit einem abgeschlossenen Vertrag nicht vereinbar ist. In einer solchen Situation soll die Schweiz künftig stets genau gleich vorgehen, um den Vorrang der Verfassung durchzusetzen: Sie darf den Vertrag nicht mehr anwenden, ausser er hat beim Abschluss dem Referendum unterstanden. Und sie muss den Vertrag anpassen, also mit den entsprechenden Ländern neu verhandeln. Gelingt das nicht, muss sie den Vertrag "nötigenfalls" kündigen. Diese Bestimmungen sollen nicht nur für alle künftigen völkerrechtlichen Verträge des Bundes und der Kantone gelten, sondern auch für alle bereits bestehenden.
Die Schweiz hat rund 4000 bilaterale Verträge, oft mit Nachbarstaaten, abgeschlossen. Daneben ist die Schweiz Vertragspartei von rund 1000 multilateralen Verträgen. Diese internationalen Verträge schaffen Verlässlichkeit und Stabilität für Bevölkerung und Wirtschaft. Die Initiative setzt das mit einer Aufforderung zum Vertragsbruch aufs Spiel. Das widerspricht unserer Tradition und birgt Risiken: Hält die Schweiz ihre Vereinbarungen nicht mehr ein, darf sie das von ihren Vertragspartnern auch nicht mehr erwarten. Hinzu kommt, dass die Initiative in zentralen Punkten unklar und widersprüchlich ist. Eine Annahme würde deshalb zu grossen Unsicherheiten führen, hätte negative Auswirkungen für Bevölkerung und Wirtschaft. Sie würde zudem auch den internationalen Menschenrechtsschutz schwächen.
Für den Bundesrat ist klar: Die Schweiz bestimmt schon heute selber, welchen Vertrag sie abschliesst und welchen nicht. Ihr wird nichts aufgezwungen. Wir schliessen einen Vertrag nur dann ab, wenn er uns unter dem Strich Vorteile bringt. Und wir bestimmen auch selber, ob und wann wir einen Vertrag kündigen oder in welchen Fällen die Schweiz ausnahmsweise von einem Vertrag abweichen soll, wenn wir nach einer politischen Diskussion zu dieser Überzeugung kommen. Die Selbstbestimmungsinitiative hingegen will uns mit ihrem starren Mechanismus genau diese Beweglichkeit nehmen, die wir brauchen, um die beste Lösung für unser Land zu finden. Bei einer Annahme der Initiative kann selbst dann die Kündigung eines wichtigen Vertrags oder eines Vertragspakets drohen, wenn die Verfassung diesem nur in einem untergeordneten Punkt widerspricht, die Schweiz jedoch alles Interesse daran hat, den Vertrag beizubehalten.
Verhältnis Landesrecht und Völkerrecht
Nein. Die Initiative verspricht zwar, Klarheit zu schaffen. Diesen Anspruch kann sie aber nicht einlösen: Innerstaatlich würde sie das Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht mit neuen, klärungsbedürftigen Fragen belasten. Und in den Beziehungen zu anderen Ländern könnte die Schweiz auch nach einer Annahme der Initiative für die Nichteinhaltung von Verträgen zur Verantwortung gezogen werden.
Ja. Es gibt kaum ein Land, das eine vergleichbar starke demokratische Mitsprache beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge kennt wie die Schweiz. Die Bundesverfassung garantiert hier den Einbezug von Parlament und Stimmbevölkerung. Die Stimmbevölkerung kann über das Referendum mitentscheiden und allenfalls einen Genehmigungsbeschluss des Parlaments umstossen. Die Mitsprache der Stimmbevölkerung bei solchen Verträgen funktioniert wie beim Landesrecht: Bei allen wichtigen Fragen hat sie das letzte Wort.
In mehreren Punkten. Die Unklarheiten sind aber bei zwei Begriffen besonders gross und werfen verschiedene Fragen auf:
a) Was bedeutet ein "Widerspruch" zwischen der Bundesverfassung und einem internationalen Vertrag? Muss der Widerspruch grundsätzlicher Natur sein? Oder genügt ein punktueller Widerspruch? Und: Wer stellt fest, ob tatsächlich ein Widerspruch besteht? Die Bundesversammlung, der Bundesrat oder das Bundesgericht?
b) Was bedeutet "nötigenfalls" kündigen? Wann genau ist eine Kündigung nötig? Etwa auch dann, wenn die Kündigung den Interessen der Schweiz zuwiderläuft? Und auch hier: Wer entscheidet?
Beide Begriffe sind zentral für die Frage, was denn nach einer Annahme der Initiative bei einem Konflikt zwischen Verfassung und Völkerrecht genau geschehen würde. Das heisst: Wir wissen vor der Abstimmung nicht, wozu wir bei einer Annahme eigentlich genau ja sagen. Verwirrung und lange politische Diskussionen sind also vorprogrammiert.
Aussenpolitik ist ein Politikbereich, in dem Handlungsspielraum und Beweglichkeit besonders wichtig sind. Verhandlungen sind die Essenz der Aussenpolitik. Unsere Position am Verhandlungstisch droht aber geschwächt zu werden, wenn bereits unsere Verfassung von einem möglichen Vertragsbruch spricht und schematisch vorgibt, wie die Schweiz bei einem Konflikt zwischen der Verfassung und internationalen Verträgen weiter vorgehen müsste. Die Initiative nimmt mit ihrem starren Mechanismus dem Bundesrat und dem Parlament den nötigen Handlungsspielraum, um unsere Beziehungen mit dem Ausland weiterhin geschickt zu gestalten.
Folgen einer Annahme der Initiative
Nicht sofort. Aber die Schweiz läuft bei einer Annahme der Initiative Gefahr, dass sie die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht mehr erfüllen kann. Auf lange Sicht wäre sogar ein Ausschluss der Schweiz aus dem Europarat möglich, was einer Kündigung der EMRK gleichkäme. Europarat und EMRK sind aber erstens wichtige Instrumente zur Förderung und Stabilisierung von Rechtsstaat, Demokratie, Sicherheit und Frieden in ganz Europa. Daran hat die Schweiz ein existenzielles Interesse. Zweitens schützt die EMRK uns alle, uns Bürgerinnen und Bürger, auch gegenüber dem Staat. Niemand kann ein Interesse daran haben, unsere eigenen Rechte gegenüber dem Staat zu schwächen.
Weder die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) noch die Initiative enthalten eine unbedingte Verpflichtung zur Kündigung. Bei einer Annahme der Initiative läuft die Schweiz allerdings Gefahr, dass sie die Standards der EMRK beim Menschenrechtsschutz nicht mehr erfüllen kann. Der Bundesrat müsste die betroffenen Teile der EMRK neu verhandeln. Sollten die Verhandlungen scheitern, muss er "nötigenfalls" die EMRK kündigen. Würde die Schweiz ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nicht umsetzen, so könnte das Ministerkomitee des Europarates sie auffordern, die konventionswidrige Regelung anzupassen. Bei andauernder und systematischer Verletzung der EMRK könnte das Ministerkomitee des Europarates die Schweiz letztlich aus dem Europarat ausschliessen, was einer Kündigung der EMRK gleichkäme.
Das lässt sich nicht sagen. Denn der Text der Initiative schafft in dieser Frage keine Klarheit. Unklar ist zum einen, wann genau ein "Widerspruch" vorliegen würde, der gemäss Initiativtext eine Neuverhandlung verlangen würde. Unklar ist auch, was "nötigenfalls" kündigen genau heisst bzw. wann denn eine Kündigung nötig wäre oder nicht (siehe dazu Frage 6). Sicher ist nur: Eine Annahme dieser Initiative würde zu grosser Unsicherheit führen, weil die Bedeutung zentraler Begriffe – und damit die Konsequenzen – vor der Abstimmung nicht klar waren.
Letzte Änderung 20.05.2020