"Das Vertrauen der Opfer lässt sich nicht über das Strafrecht herstellen"

Intervista, 2 novembre 2021: Tages-Anzeiger, Berner Zeitung, Der Bund, Basler Zeitung; Raphaela Birrer, Alessandra Paone

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Tages-Anzeiger: "Häusliche Gewalt In der Schweiz werden jährlich Dutzende Frauen von ihren Männern getötet. Jetzt spricht Justizministerin Karin Keller-Sutter über die Versäumnisse der Behörden – und über ihren neuen Plan."

Frau Keller-Sutter, allein im Oktober wurden vier Frauen von Männern im familiären Kontext getötet; 24 sind es bis jetzt in diesem Jahr. Was löst das bei Ihnen aus?
Es macht mich sehr betroffen, und ich denke jedes Mal: Nicht schon wieder! Diese Taten sind grauenhaft. Es lässt sich nicht jedes Delikt verhindern. Aber wir müssen alle möglichen Massnahmen ergreifen, um solche Taten zu unterbinden. Die Schwierigkeit dabei: Oft passieren die Taten innerhalb einer privaten Beziehung, in die man nicht hineinsieht.

Die Tötungen ereignen sich in der ganzen Schweiz, über alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten hinweg. Was haben diese Fälle gemeinsam?
Oft geht es um Beziehungskrisen, um Trennungen. Zum Teil gibt es eine Vorgeschichte mit häuslicher Gewalt. In anderen Fällen war der Täter vorher nicht auffällig. Ein Grund für die Gewalt kann sein, dass der Mann eine Trennung als persönliches Scheitern erlebt. Er ist nicht mehr Herr der Lage. Dieser Kontrollverlust kann dazu führen, dass er die Tötung der Partnerin als unumgänglich sieht. Das ist eine Erklärung, keine Entschuldigung. Die Konstellationen unterscheiden sich natürlich. Aber es ist die Aufgabe des Staates, Leib und Leben der Menschen in allen Fällen häuslicher Gewalt zu schützen.

Es fällt auf, dass viele Täter ausländischer Herkunft sind. Welche Rolle spielt der kulturelle Hintergrund bei Femiziden?
Die Statistik ist eindeutig: Die Hälfte der Beschuldigten hat eine ausländische Herkunft. Häusliche Gewalt ist allerdings sehr komplex. Sie kommt grundsätzlich in allen Schichten vor. Da spielen nicht nur kulturelle Hintergründe eine Rolle. Faktoren können auch finanzielle Probleme, Alkohol oder Drittbeziehungen sein.

Die SVP will jetzt hart gegen ausländische Täter vorgehen, etwa mit Ausschaffungen. Die Linke setzt dagegen auf Prävention. Was ist sinnvoller?
Mit Ideologie kommt man bei diesem komplexen Phänomen nicht weiter. Parteipolitisch mag es attraktiv sein, sich auf harte Massnahmen einzuschiessen oder zu tabuisieren, dass viele Täter Ausländer sind. Doch wenn man Opfer besser schützen und Tötungsdelikte verhindern will, muss man offen sein. Es braucht sowohl repressive Massnahmen als auch Präventionsprogramme, einen verbesserten Opferschutz, ein Bedrohungsmanagement. Der Streit erinnert mich an die Drogenpolitik in den 90er-Jahren: Die einen wollten nur präventiv vorgehen, die andern nur repressiv. Erfolgreich war schliesslich eine Kombination dieser Ansätze.

Sie sprechen von Beziehungskrisen – ein Begriff, der kritisiert wird, weil er die Tat verharmlose. Müsste der Begriff Femizid ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden?
Das löst das Problem nicht. Ich habe Verständnis für die Diskussion und auch für die Frage, wie man die Taten benennen soll. Vielleicht stand am Anfang eine Beziehungskrise, aber eine Tötung ist eine Tötung, da gibt es nichts zu beschönigen. Geschlechtsspezifische Straftatbestände sind ein Fremdkörper im Strafgesetzbuch. Deshalb soll der Tatbestand der Vergewaltigung ja auch auf Männer als Opfer ausgedehnt werden.

Staatliche Massnahmen haben bisher zu wenig gegriffen. Was unternehmen Sie jetzt konkret, um Frauen besser zu schützen?
Bund und Kantone haben im Frühling die Roadmap gegen häusliche Gewalt verabschiedet. Das ist ein Meilenstein! Die wichtigsten Akteure haben beschlossen, gemeinsam strategisch vorzugehen. Alle haben sich verpflichtet, die Möglichkeiten in ihrer Zuständigkeit auszuschöpfen und voneinander zu lernen. Einige Kantone sind sehr weit mit ihren Massnahmen, andere weniger.

Warum dauerte es denn so lange, bis die Kantone gehandelt haben?
Sie sind schon lange aktiv. Auf gesetzlicher Ebene gab es sowohl beim Bund als auch bei den Kantonen ständig Verbesserungen. Ein paar Beispiele: Das St. Galler Gewaltschutzgesetz aus dem Jahr 2003 wurde in anderen Kantonen kopiert. Zudem wurde häusliche Gewalt im Strafgesetzbuch zum Offizialdelikt. Kantone wie Solothurn, Zürich, Luzern oder Neuenburg sind beim Bedrohungsmanagement vorbildlich, bei dem sich verschiedene Behörden und Fachstellen in der Fallbearbeitung vernetzen.

Trotzdem können die Behörden den Schutz der Opfer häufig nicht gewährleisten. In vielen aktuellen Tötungsfällen waren ihnen die Täter bereits bekannt. Was läuft da schief?
Mir ist klar: Einzelne Massnahmen reichen nicht. Wir müssen häusliche Gewalt umfassender betrachten. Deswegen hat mein Departement in der Roadmap zusammen mit den Kantonen zehn Handlungsfelder eruiert. Dabei geht es um Prävention, Koordination, Bedrohungsmanagement oder um die Betreuung der Opfer. Und wir wollen alle sechs Monate die Fortschritte des Projekts kontrollieren.

Sie formulieren das sehr positiv. Dabei liest sich diese Roadmap wie ein Katalog der Versäumnisse. Haben die Behörden das Problem verschlafen?
Ich sehe es als Katalog der Transparenz. Die Roadmap legt schonungslos offen, wo es noch Handlungsbedarf gibt. Und sie verpflichtet die Kantone, vorwärtszumachen. Zuvor war ich mit ihnen bereits im Austausch über eine verbesserte elektronische Überwachung im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Dabei zeigten sie sich zunächst zurückhaltend. Dank der Roadmap werden 2022 einige Kantone Pilotprojekte durchführen.

Die Kantone zeigen sich jetzt handlungsbereit – aber in vielen Bereichen soll der Bund bezahlen. Ist ihnen der Schutz der Frauen zu wenig wert?
Das ist ein zu hartes Urteil; es geht ja nicht einfach um das Geld. Es ist oft auch eine Frage des politischen Willens und der Personen, die an den Schalthebeln sind, in den Regierungen, Staatsanwaltschaften und Gerichten. Die Lernprogramme für Täter etwa stiessen zuerst auf breite Skepsis. Jetzt konnte die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr zeigen, dass die Rückfallquote damit gesenkt werden kann. Mit solchen Massnahmen lässt sich im Endeffekt sogar Geld sparen, denn häusliche Gewalt verursacht sehr hohe volkswirtschaftliche Kosten.

Vor zwei Jahren haben Sie bei uns angekündigt, nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer mit GPS-Trackern ausrüsten zu wollen. Wo stehen diese Arbeiten?
Inzwischen liegt ein Gutachten der Universität Bern vor, das das Bundesamt für Justiz in Auftrag gegeben hat. Es zeigt die Möglichkeiten der elektronischen Überwachung im Bereich der häuslichen Gewalt auf. Auch da gab es zunächst Zurückhaltung. Die Kantone wollten nicht den Eindruck vermitteln, dass alle Gewaltfälle verhindert werden können. Denn die Polizei schafft es vielleicht nicht jedes Mal rechtzeitig vor Ort. Dafür habe ich Verständnis. Dennoch plädiere ich für ein Umdenken: Es geht bei der elektronischen Überwachung nicht darum, jeden Fall zu verhindern – aber mehr Fälle als bisher.

In welchen Fällen käme denn eine solche Überwachung zum Einsatz?
In Spanien wird die GPS-Überwachung bei Tätern abhängig vom Risiko eines Übergriffs eingesetzt. Die Opfer werden – natürlich nur mit deren Zustimmung – mit einem Tracker und einem Notfallknopf ausgestattet, den sie aktivieren können, wenn der Täter sich nähert. Die Erfahrungen zeigen, dass sich die Opfer besser geschützt fühlen.

Im häuslichen Kontext ist auch sexuelle Gewalt weit verbreitet – und nicht nur da. Längst nicht alle Taten werden angezeigt. Die Opfer haben zu wenig Vertrauen in die Behörden. Wie wollen Sie das ändern?
Ich habe persönlich mit Vergewaltigungsopfern gesprochen. Und mit vielen Frauen, die sich eine Änderung des Sexualstrafrechts wünschen. Meine Erkenntnis: Das Vertrauen der Opfer lässt sich nicht über das Strafrecht herstellen.

Sondern?
Es geht vor allem darum, wie wir als Gesellschaft mit den Opfern umgehen. Und wie sie von den Strafverfolgungsbehörden behandelt werden. Ich denke zum Beispiel an die Technik der Einvernahme. Oder an die Umgebung, in der solche Gespräche stattfinden. Wie können wir den Opfern während des gesamten Prozesses mehr Sicherheit und Vertrauen vermitteln, ohne die Rechte der Täter zu beschneiden? Ich kenne das aus eigener Erfahrung.

Aus eigener Erfahrung?
Ich wurde selber einmal bedroht und hatte dann eine Einvernahmebefragung als Zeugin. Der Täter durfte mir mit seinem Anwalt hinter der Trennscheibe Fragen stellen. Ich konnte damit umgehen, weil ich unser Rechtssystem kenne. Aber für viele Frauen ist das sehr schwierig. Sie haben das Gefühl, dass sie sich rechtfertigen müssen. Dass das ganze System gegen sie arbeitet.

Was bedeutet das für die laufende Revision des Sexualstrafrechts?
Solche Begleitmassnahmen scheinen mir inzwischen fast ebenso wichtig wie das materielle Recht. Die Waadt ist in dieser Hinsicht Vorreiterin: Dort können sich Vergewaltigungsopfer kostenlos untersuchen lassen, ohne dass die Polizei sofort verständigt wird. Die Verurteilungsraten sind in den Kantonen sehr unterschiedlich. In der Waadt wurden im Zeitraum 2016–2018 61 Prozent der Beschuldigten wegen Vergewaltigung verurteilt, in Zürich waren es nur 7,4 Prozent. Das kann auch eine Frage der Zusammensetzung der Gerichte sein, also welche Werthaltungen vertreten sind. Überall arbeiten Menschen.

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Dossier

  • Lotta alla violenza domestica e sessuale

    La lotta alla violenza domestica e sessuale è una priorità del Dipartimento federale di giustizia e polizia (DFGP). Insieme al Dipartimento federale dell’interno (DFI), ai Cantoni e ad altri partner e organizzazioni nonché a città e Comuni, il DFGP elabora diverse misure contro la violenza domestica e sessuale.

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Ultima modifica 03.11.2021

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