Interview mit Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration, 23. Dezember 2019: Neue Zürcher Zeitung; Tobias Gafafer.
Neue Zürcher Zeitung: "Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration, plädiert im Umgang mit abgewiesenen Eritreern für eine harte Haltung. Mit den beschleunigten Asylverfahren sei die Zahl der freiwilligen Ausreisen stark gestiegen, sagt er im Gespräch mit Tobias Gafafer."
Herr Gattiker, Sie hatten vor einigen Monaten einen Herzinfarkt. Wie geht es Ihnen?
Ich fühle mich sehr gut, danke. Ich habe eine intensive Rehabilitation hinter mir, bin nun aber schon länger wieder im Einsatz.
Im März ist Ihr wichtiges Projekt, die beschleunigten Asylverfahren, in Kraft getreten. Sind die ambitiösen Ziele erreicht worden?
Ich bin mit der Umsetzung des neuen Asylgesetzes sehr zufrieden. Wir können die Gesuche zu einem grossen Teil im beschleunigten Verfahren behandeln. Lediglich 18 Prozent der Asylgesuche kommen ins erweiterte Verfahren, wo es aufwendigere Abklärungen braucht. Über alle Verfahren hinweg gesehen brauchen wir durchschnittlich 48 Tage bis zum Entscheid. Bei den beschleunigten Verfahren sind es weniger als 50 Tage, bei den erweiterten Verfahren weniger als 100. Besonders eindrücklich ist die Beschleunigung bei den Dublin- Fällen, also bei jenen Asylsuchenden, die bereits in einem anderen europäischen Land ein Gesuch gestellt haben. Früher brauchten wir rund 60 Tage bis zum Entscheid, nun sind wir mit 35 Tagen fast doppelt so schnell.
Behandeln die Behörden 60 Prozent der Verfahren innerhalb von 140 Tagen, wie es dem Stimmvolk versprochen wurde?
Hierzu können wir nach zehn Monaten noch keine stabilen Aussagen machen, weil es laufende Beschwerdeverfahren gibt.
Ziehen die unentgeltlichen Rechtsvertreter die Asylverfahren in die Länge, wie Kritiker befürchteten?
Nein. Der Anteil unserer Entscheide, die vor Verwaltungsgericht angefochten werden, hat nicht zugenommen. Erfreulich ist, dass seit der Einführung der neuen Verfahren deutlich mehr Asylsuchende freiwillig ausreisen als zuvor. Die Zunahme beträgt fast 40 Prozent.
Worauf führen Sie dies zurück?
Die Asylsuchenden werden rasch über ihre Perspektiven informiert und haben auch Zugang zur Rückkehrberatung. Bei der Rückkehrhilfe gilt nun ein degressives System. Je früher sich jemand zur Ausreise entschliesst, desto höher ist die Unterstützung. Dies ist vor allem für Asylsuchende wichtig, die keine Aussicht auf einen positiven Entscheid haben. Wir stellen auch fest, dass die Asylsuchenden einen negativen Entscheid eher akzeptieren als früher, weil sie von Beginn weg einen Rechtsvertreter haben, der sie über ihre Chancen orientiert. All diese Massnahmen führen dazu, dass sich die Leute offener mit der Rückkehr beschäftigen. Auch bei solchen, die aus Staaten kommen, mit denen die Zusammenarbeit im Rückkehrbereich schwierig ist.
Gegenwärtig sind die Asylzahlen tief. Funktioniert das neue System auch bei einem starken Anstieg?
Die tiefen Asylzahlen sind uns sicher entgegengekommen, weil sich die Abläufe erst einspielen mussten. Aber klar: Das System muss auf schlagartige Veränderungen reagieren können, zumal der globale Migrationsdruck weiterhin hoch ist. Unser Konzept und unsere Strukturen sind für bis zu 29 000 Asylgesuche pro Jahr ausgelegt. Wir haben dieses Jahr einige Bundesasylzentren vorläufig stillgelegt, können diese aber rasch reaktivieren.
Wo gibt es bei den beschleunigten Verfahren noch Probleme?
Es ist eine Herausforderung, genügend Ärzte zu finden, die innerhalb der knappen Fristen vertiefte medizinische Abklärungen vornehmen können. Auch bei der Sicherheitsprüfung kann es zu aufwendigen Abklärungen mit unseren Partnerbehörden kommen. Wir nehmen bewusst in Kauf, dass es den einen oder anderen Fall gibt, der länger braucht. Wir können es uns nicht erlauben, einen Terrorismusverdächtigen zu übersehen.
Kurz nach der Eröffnung geriet das Bundesasylzentrum in Zürich bereits in die Schlagzeilen. Der Zürcher SP-Stadtrat Raphael Golta kritisierte, das Sicherheitsregime sei nicht menschenwürdig. Hat Sie die heftige Kritik überrascht?
Ja. Die Asylorganisation der Stadt Zürich (AOZ) ist in mehreren Bundesasylzentren für die Betreuung der Asylsuchenden zuständig und kennt unsere Betriebs- und Sicherheitskonzepte genau. Diese haben sich über viele Jahre bewährt. Es ist nicht einzusehen, warum diese in einer Stadt wie Basel akzeptiert werden und in Zürich auf eine derartige Skepsis stossen. Ich habe mit Herrn Golta ein gutes Gespräch geführt, und die Stadt Zürich hat wohl verstanden, dass das Sicherheitskonzept nicht verhandelbar ist.
Ist es nötig, jede Person bei jedem Eintritt abzutasten?
Die Mitarbeitenden im Sicherheitsdienst haben die Vorgabe, bei Kindern besonders sorgfältig zu sein und wenn möglich nur oberflächliche Kontrollen zu machen. Daran halten sie sich auch. Die nationale Kommission zur Verhütung von Folter attestiert uns, dass die Durchsuchungen professionell vorgenommen werden. Es gibt leider immer wieder Fälle, in denen Kinder von Erwachsenen dazu missbraucht werden, gefährliche Gegenstände einzuschleusen. Die Eingangskontrollen dienen dem Schutz der Mitarbeitenden, aber vor allem auch der Asylsuchenden. Diese schätzen den sicheren Raum, was wir gerade von alleinstehenden Frauen mit Kindern immer wieder hören.
Die Lage in der Türkei und in Griechenland ist angespannt. Erwarten Sie 2020 eine Zunahme der Asylgesuche?
Wir rechnen nicht mit einer deutlichen Zunahme. Die Lage bleibt aber volatil. Für die Schweiz sind zwei Faktoren entscheidend. Zum einen hält sich in Libyen immer noch eine grosse Zahl von gestrandeten Migranten auf, die nach Italien übersetzen möchte. Dies ist wegen des Bürgerkriegs und der Massnahmen von Italien momentan fast nicht möglich. Zum anderen ist der Migrationsdruck an der türkisch-griechischen Grenze hoch. Eine immer grössere Zahl von Afghanen und Syrern sucht nach einer Perspektive in einem westeuropäischen Land.
Die Türkei spielt mit den vielen Flüchtlingen und droht Europa.
Die Türkei hat 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, mehr als jedes andere Land. Allein in diesem Jahr kamen über 180 000 Afghanen hinzu Die Situation ist für die türkischen Behörden sehr schwierig. Das Land ist auf Solidarität angewiesen, um diese gewaltigen Herausforderungen zu bewältigen. Das ist der Schweiz und anderen europäischen Staaten bewusst. Wir planen, im Rahmen des Resettlement-Programms auch ein kleines Kontingent von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen aus der Türkei aufzunehmen.
In der Schweiz hat die Zahl der abgewiesenen Eritreer zugenommen. Was soll mit den Menschen geschehen, die jahrelang von Nothilfe leben und nicht ausgeschafft werden können?
Eritreer, die einen negativen Asylentscheid und eine Wegweisung erhalten haben, können aus Sicht des Bundes jederzeit freiwillig in ihre Heimat zurückkehren. In diesem Jahr haben dies fast 30 Personen getan. Wer sich behördlichen Anordnungen widersetzt, darf nicht mit einem Bleiberecht belohnt werden. Hier dürfen wir keine Kompromisse machen. Wer den Schutz der Schweiz braucht, soll ihn erhalten. Wer kein Anrecht darauf hat, muss diese verlassen. Sonst untergraben wir die Glaubwürdigkeit unserer Asylpolitik. In begründeten Einzelfällen gibt es die Möglichkeit, ein Härtefallgesuch zu stellen.
Für viele Eritreer ist ein Leben in der Nothilfe immer noch besser als eine Heimkehr. Planen Sie einen Ausbau der freiwilligen Rückkehrhilfe?
Grundsätzlich sind wir im Rückkehrbereich gut aufgestellt. Wir haben eine Vollzugsquote von 56 Prozent, die deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegt. Aber wir wollen noch besser werden. Deshalb prüfen wir für die Länder am Horn von Afrika wie Äthiopien, Eritrea, Somalia und Sudan spezifische Programme. Dafür suchen wir Partnerorganisationen, die Projekte vor Ort umsetzen können. In Eritrea bleiben die Rahmenbedingungen jedoch schwierig. Es gibt keinen privaten Wirtschaftssektor, und uns fehlt ein lokaler Partner. Dennoch schauen wir mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), die vor Ort bereits Projekte umsetzt, und den eritreischen Behörden, was möglich sein könnte.
Was halten Sie von einer Rückkehrlehre für abgewiesene Eritreer?
Mit den beschleunigten Verfahren ist relativ rasch klar, ob ein Asylsuchender in der Schweiz bleiben kann oder diese verlassen muss. Da bleibt wenig Raum für eine Rückkehrlehre. Sie würde viel länger dauern als das Asylverfahren.
Im Fall der verhafteten Botschaftsangestellten in Sri Lanka fordert der Bund, dass Colombo rechtsstaatliche Normen einhält. Gleichzeitig hält er an Zwangsrückführungen in das Land fest. Wie rechtfertigen Sie das angesichts der massiv verschlechterten Lage?
Der Vorfall mit der lokalen Mitarbeiterin des Aussendepartements (EDA) darf nicht mit der generellen Lage in Sri Lanka vermischt werden. Wir halten die Rückkehr von weggewiesenen Asylsuchenden weiterhin für zumutbar. Aber wir prüfen in jedem Einzelfall sorgfältig, ob eine Bedrohung bestehen könnte.
Ändern Sie die Asylpraxis, wenn das EDA seine Reisehinweise für Sri Lanka anpasst?
Die Asylpraxis folgt einer eigenen Logik. Wir beobachten die Lage in den Herkunftsstaaten aufmerksam und beurteilen sie regelmässig neu. Dabei stützen wir uns auf die Einschätzung der Schweizer Botschaften, unsere Analysen und die anderer europäischer Staaten sowie die Einschätzungen internationaler Organisationen. Die Reisehinweise des EDA sind natürlich auch wichtig. Es kann aber sein, dass Touristen gefährdet sind, nicht aber Landsleute, die in ihre Heimat zurückkehren.
Letzte Änderung 23.12.2019